Es war an einem Freitagabend. Genau genommen war es der 03. Dezember 1926, als Agatha Christie ihr Haus und ihre damals siebenjährige Tochter Rosalind verließ und für elf Tage spurlos verschwand. Über das Geschehene schwieg die Queen of Crime bis zu ihrem Tod und schwärzte diese Tage in ihrem Lebenslauf. In ihrer Autobiografie „Meine gute alte Zeit“ spart sie das Kapitel komplett aus und es heißt, sie habe nie mit jemandem darüber gesprochen.
Zwei schwere Schicksalsschläge hatte Agatha Christie kurz vor ihrem Verschwinden erlitten: Ihre Mutter war verstorben – für die Schriftstellerin ein schwerer Verlust – und ihr erster Ehemann Archie hatte sich in eine andere Frau verliebt und wollte die Scheidung. Ihre bis dahin weitgehend heile Welt zerbrach. In einem Interview, das Agatha Christie für die Daily Mail gab, sagte sie: „Bis zu diesem Augenblick war ich Mrs. Christie.“
Die Tage vor dem Verschwinden
In der Biografie „Agatha Christie – Das faszinierende Leben der großen Kriminalschriftstellerin“ beschreibt Laura Thompson die zeitliche Chronologie wie folgt:
Am Mittwoch sei sie mit einer Nachbarin Mrs. De Silva zum Einkaufen gefahren und habe den Abend in ihrem Club verbracht. Am darauffolgenden Tag, dem Donnerstag, sei es zu einem Treffen mit ihrem Literaturagenten gekommen, dem gegenüber sie beteuert habe, nun mit dem Schreiben wieder gut voranzukommen. Am Abend habe sie gemeinsam mit ihrer engen Vertrauten Charlotte Fisher – jahrelang Nanny und Sekretärin, von Agatha liebevoll Carlo genannt – wie jeden Donnerstag die Tanzschule in Ascot besucht. Thompson schreibt, viele Menschen hätten sich in diesen Tagen um Agatha Christie gesorgt, die den Verlust ihrer Mutter und die Trauer über ihre zerbrochene Ehe nicht verwinden konnte. Insbesondere Carlo, die am Freitag jedoch von der Schriftstellerin mit der Versicherung weggeschickt worden sei, es wäre alles in Ordnung, habe sich viele Gedanken um die Freundin gemacht. Der Nachbarin Mrs. De Silva, die Agatha zu Tee und Bridge habe einladen wollen, sagte sie mit der Begründung, noch zu ihrer Schwiegermutter zu müssen, ab.
Was man zu wissen glaubt …
Agatha Christie nahm an diesem Abend des 03. Dezembers 1926 das Auto, einen Morris Cowley, und fuhr weg von ihrem Haus „Styles“ in der Charter Road in Sunningdale (Berkshire) in Richtung Süden nach Guildford. Von dort aus orientierte sie sich östlich und stellte das Auto in Newlands Corner ab. Hier rollte der Wagen aus nicht geklärten Gründen von der Straße eine Böschung hinab und blieb oberhalb eines Steinbruchs in einem Busch stecken. Man fand ihn später mit noch brennenden Scheinwerfern. Nicht weit von dieser Stelle entfernt befindet sich The Silent Pool, ein kleiner See, in dem man schon bald ihre Leiche vermutete. Um die Bergung zu erleichtern, wurde der See abgepumpt. Über 15000 freiwillige Helfer beteiligten sich an der erfolglosen Suche. Selbst Arthur Conan Doyle, der Schöpfer von Sherlock Holmes, soll sogar versucht haben, sie mithilfe eines spirituellen Mediums zu finden – eine damals wie heute umstrittene Methode. Die Polizei veröffentlichte eine Liste von Agathas Kleidungsstücken. Belohnungen für Hinweise wurden ausgeschrieben, zahlreiche Spürhunde und Flugzeuge eingesetzt. Die Zeitungen überschlugen sich mit Meldungen und wilden Spekulationen. Von Selbstmord war die Rede, aber auch von der Theorie, Archie habe seine Frau umgebracht. Einige wollten auch von einer Entführung wissen und andere schrieben von einer als Mann verkleideten Agatha, die sich in London herumtrieb.
Ein sehr lebendiger Geist in Harrogate
Am 14. Dezember 1926, also elf Tage nach ihrem Verschwinden, wurde Agatha Christie im Hotel Old Swan in Harrogate, in dem sie unter dem Namen der Geliebten ihres Mannes, Teresa Neele, eingecheckt hatte, erkannt. Archie, der angereist kam, bestätigte ihre Identität. Sie gab daraufhin an, sich nicht an die letzten elf Tage erinnern zu können. Belegt ist jedoch, dass Agatha Christie während ihres Aufenthalts am allgemeinen Leben teilgenommen hatte. So hatte sie sich neue Kleidung gekauft, ihre Mahlzeiten im Hotel eingenommen, sich mit den anderen Gästen unterhalten und sogar Abendveranstaltungen besucht. Da Harrogate knapp 400 Kilometer von dem Steinbruch entfernt liegt, an dem Agatha Christies Wagen gefunden wurde, geht man zudem davon aus, dass sie den Zug genommen haben muss.
Bis heute kursieren weltweit unterschiedliche Meinungen über das Geschehen. Während einige von einem Nervenzusammenbruch ausgehen und an den Gedächtnisverlust glauben wollen, sind sich andere sicher, dass die zutiefst verletzte Agatha Christie berechnend gehandelt hat, um ihrem Ex-Mann eins auszuwischen. Archie sollte übrigens für die horrenden Kosten des Polizeieinsatzes aufkommen, wehrte sich jedoch erfolgreich juristisch dagegen.
Was auch immer damals, im Dezember 1926 wirklich geschah, Agatha Christie hat mit ihrem Verschwinden für einen ganz eigenen Krimi und für einen enormen Karriereschub gesorgt.
Nach ihrem Tod wurde die Geschichte unter der Leitung des Regisseurs Michael Apted unter dem Titel „Das Geheimnis der Agatha Christie“ verfilmt (Film von 1979).
Zudem läuft in Berlin derzeit das Krimi-Musical „Vermisst! Was geschah mit Agatha Christie?“ aufgeführt (Kleines Theater).
Übrigens hat es das mysteriöse Verschwinden von Agatha Christie sogar in die britische Kultserie Doctor Who geschafft: In der Folge „The Unicorn and the Wasp“ mit dem zehnten Doctor (David Tennant) und seiner Begleiterin Donna Noble wird eine fantasievolle und augenzwinkernde Erklärung für ihr elftägiges Verschwinden geliefert – inklusive Alien, Wespengift und einem klassischen Whodunit. Ein schönes Beispiel dafür, wie sehr Agatha Christies Leben und Werk bis heute die Popkultur prägen.


Suche







Leserbriefe (0)
Keine Leserbriefe gefunden!