Wer durch britische Landhäuser streift, merkt schnell: Hier wird nichts weggeworfen, höchstens recycelt. Alte Möbel, die anderswo längst auf dem Sperrmüll gelandet wären, bekommen ein zweites Leben – nicht als Museumsstücke, sondern als Teil des Alltags. Das Stichwort lautet Upcycling, und kaum ein Land beherrscht diese Kunst so nonchalant wie Großbritannien. Zwischen viktorianischer Erbstück-Kommode und modernem Designerstuhl entsteht eine Mischung, die nicht nach Absicht aussieht, sondern nach charmanter Persönlichkeit.
Von Shabby zu Chic
Ursprünglich war Upcycling kein Stil, sondern eine Notwendigkeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg mussten viele Familien mit dem arbeiten, was da war. Ein alter Küchenschrank wurde abgeschliffen, neu lackiert, und schon hatte man ein Möbelstück, das „nearly new“ war. Jahrzehnte später wurde daraus ein Trend, dann ein Statement. Heute steht „Shabby Chic“ für eine Ästhetik, die bewusst unperfekt ist und dafür umso mehr Charme hat, gerade weil sie so einzigartig ist.
Dass Designer und Einrichtungsmarken den Look übernommen haben, ist kein Zufall. Während in Schweden alles hell, glatt und minimalistisch glänzt, bevorzugen die Briten Ecken und Kanten. Sie lieben Möbel mit Geschichte, Patina und Stil. In Londoner Vierteln wie Notting Hill oder Hampstead sieht man heute Vintage-Kommoden, die in neuen Farben leuchten: Salbeigrün, Ocker, Aubergine.
Nachhaltigkeit mit Stil
Upcycling ist gelebte Nachhaltigkeit und die elegante, ältere Schwester des Recyclings und Charity-Shoppings. Statt Material zu zerkleinern und neu zu verpressen, behält man hier die Substanz und verleiht ihr neue Bedeutung. Ein alter Holztisch bekommt frische Beine aus Metall, ein Ledersessel ein neues Innenleben, und eine viktorianische Lampe strahlt plötzlich mit moderner LED-Technik.
Besonders beliebt sind derzeit Kombinationen aus Alt und Neu: antike Spiegel in modernen Bädern, viktorianische Schreibtische mit Laptops darauf oder alte Truhen, die als Couchtische dienen. Selbst große Modehäuser wie Burberry oder Mulberry nutzen heute recycelte Materialien in ihren Stores – britische Nachhaltigkeit ist alles andere als shabby!
Handwerk trifft Kreativität
Wer das echte Handwerk hinter dem Trend erleben will, reist am besten in den Norden Englands. In Städten wie Manchester oder York entstehen kleine Werkstätten, die alten Möbeln neues Leben einhauchen. Die Handwerker dort arbeiten nicht mit Chemie oder Kunststoffen, sondern mit Leinöl, Wachs und viel Geduld. Aus einem abgewetzten Chesterfield-Sofa wird ein modernes Statement-Piece, ohne den Ursprung zu verlieren.
Auch im Modedesign hat das Prinzip längst Fuß gefasst. Junge Designer arbeiten mit Vintage-Stoffen, alten Vorhängen, Wollresten und Jeans. Sie nähen daraus Kollektionen, die mehr Persönlichkeit haben als jedes T-Shirts mit Slogan. Harris Reed machte Nachhaltigkeit zum festen Bestandteil seiner Mode und präsentierte bei der London Fashion Week eine Frühjahrs-/Sommer-Kollektion, die ausschließlich aus upcycelten Kleidungsstücken und Textilien gefertigt war, die Oxfam gespendet wurden.
Britischer Stil, neu gedacht
Wer zu Hause selbst Hand anlegen will, braucht kein Atelier, sondern Geduld und ein wenig Geschick. Oft reicht es, eine Kommode neu zu beizen, den Griff auszutauschen oder alte Stoffe zu neuen Kissen zu vernähen. Wichtig ist, den Ursprung zu respektieren. Der britische Trick besteht darin, nie zu viel zu tun – die Patina darf bleiben, der Charme entsteht im Detail. Ein alter Holzstuhl mit neuen Polstern, eine Lampe mit neuem Schirm oder ein Koffer, der als Beistelltisch dient: Das ist die Kunst des Understatements.
In britischen Haushalten gehören solche Möbel längst zum guten Ton. Man sieht sie in den Landhäusern der Cotswolds ebenso wie in modernen Londoner Lofts. Auch Prominente wie Helena Bonham Carter oder Benedict Cumberbatch gelten als Fans. Wer die Kunst des Upcyclings beherrscht, zeigt nicht nur Stil, sondern auch ein Bewusstsein für Ressourcen – und die Umwelt.


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